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Musik

Rezensionen zu klassischen und Jazz-Konzerten sowie Besprechungen von auf CD, LP oder im Netz veröffentlichten Aufnahmen gehören zum musikalischen Tagwerk für die Sächsische Zeitung.

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BAROCKSTAR

Drei große Barockmusiker wurden 1685 geboren, Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel und Domenico Scarlatti. Letzterer, Sohn des nicht minder berühmten Komponisten Alessandro Scarlatti, galt als genialer Musiker und hatte in Italien und später am spanischen Hof einen Status, dem wir heute einem Rockstar zubilligen würden. Es ist überliefert, wie sich der junge Händel, der mit Anfang 20 in Rom weilte, und sein Altersgenosse Scarlatti in einem Palazzo der Ewigen Stadt vor erlesenem Publikum wahre Keyboardduelle lieferten. Das Piano im heutigen Sinne gab es noch nicht, der Begriff „Klavier“ stand für Tasten, und damals wurden die Solosonaten, von denen Scarlatti zeitlebens mehr als 500 schrieb, meist auf dem Cembalo gespielt. Der Versuch, das reiche Konvolut dieser stimmungsvollen Stücke für sich verändernde Spiel- und Hörgewohnheiten aufzubereiten, brachte einige populäre Editionen hervor. Der Italiener Giulio Biddau macht jetzt auf einer Doppel-CD zwei deutlich kontrastierende Sichtweisen hörbar. Zum einen spielt er auf einem modernen Steinway-Flügel 18 Stücke in der Art, wie sie der deutsche Dirigent Hans von Bülow 1864 zu drei noblen Suiten gebündelt hat. Pianistin Emilia Fadini hingegen behandelte die Sonaten in ihrer ab 1978 veröffentlichten kritischen Edition unter eher historischen Gesichtspunkten, und hier lässt Biddau Scarlattis südländisches Temperament kraftvoller durchklingen. Eine hochinteressante Einspielung. DIE AUFNAHME. Giulio Biddau: Scarlatti to Scarlatti, Klaviersonaten (Aparté/harmonia mundi)

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FÜR PAUL MOTIAN

Schlagzeug- und Percussion-Legende Paul Motion (1931-2011) ist in der vitalen Jazzszene, obwohl sein Tod nun schon fast zwölf Jahre zurückliegt, noch immer spürbar präsent. Wie kein anderer vor ihm hat er sein Instrumentarium aus der rhythmischen Basisarbeit in die Weiten der Improvisation geführt. Motion trommelte wie ein Maler, und er beherrschte die Breitwandlandschaft ebenso wie das zarte Pastell. Ihm zu Ehren hat sein langjähriger musikalischer Partner, der mittlerweile auch schon 70-jährige Saxofonist Joe Lovano, zusammen mit dem dänischen Gitarristen Jakob Bro (Jahrgang 1978) das Tribute-Album „Once Around The Room“ aufgenommen. Die CD erschien bei ECM Ende vorigen Jahres, die Vinylausgabe ist für den Frühling angekündigt. Bro und Lovano luden für die Sessions drei Bassisten und zwei Drummer nach Kopenhagen ein. Stücke wie das von Lovano konzipierte zehnminütige „For The Love Of Paul“ oder die kollektive „Sound Creation“ verschneiden den sensiblen Feingeist und die chaotisch anmutende und doch raffiniert strukturierte Unruhe, die für Paul Motian typisch waren. Die versonnene Weise „Song To An Old Friend“ steuerte Bro bei, der 2006 auf Motians „Garden Of Eden“ mitwirkte, einem Meilenstein des ECM-Katalogs. Mit „Drum Music“ findet sich auch ein Werk aus Motians eigener Feder auf diesem faszinierenden Album – mit Joey Baron and Jorge Rossy an den Drumkits. Bro und Lovano improvisieren hier über dem Donnergrollen der Schlagzeuger mit leidenschaftlicher Hingabe. Das Ganze ist ein großes Erlebnis. DIE AUFNAHME. Jakob Bro & Joe Lovano: Once Around The Room, A Tribute To Paul Motian (ECM)

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VON FRAUEN

Es hat immer auch Komponistinnen gegeben, aber nur wenige, und kaum eine ist bekannt geworden, es sei denn als Gattin, Schwester oder Muse eines berühmten Mannes. Die Cellistin Raphaela Gromes, 1991 in München geboren, hat sich bislang vor allem mit Musik von Robert Schumann oder Richard Strauss hervorgetan. Ihre Doppel-CD „Femmes“ enthält nun Werke von 22 Frauen. Die Spanne reicht von der Äbtissin Hildegard von Bingen im 12. Jahrhundert über die kurzzeitige sächsische Kurfürstin Maria Antonia (1724-1780), die als Prinzessin von Bayern dichtete, komponierte und sang, bis hin zu Popstar Billie Eilish. Es fehlen weder Clara Schumann noch Fanny Hensel, auch von Nadia Boulanger (1887-1979) oder der 1973 geborenen Lera Auerbach hat man schon gehört. Doch Namen wie Victoria Yagling, Henriette Bosmanns, Cecile Chaminade, Matilde Capuis oder Amy Beach sind bestenfalls Insidern ein Begriff. Die meisten Stücke sind echte Entdeckungen und stehen hinter Werken männlicher Zeitgenossen nicht zurück. Auf CD 1 wird die Cellistin vom Ensemble Festival Strings Lucerne begleitet, auf CD 2 von ihrem bewährten Klavierpartner Julian Riem. Ob es allerdings nötig war, die feminine Palette um Werke von Purcell, Mozart, Bizet und Quincy Jones zu ergänzen, in denen Frauen thematisiert werden, sei dahingestellt. Natürlich kommen Themen aus „Carmen“ oder dem „Figaro“ gut rüber, nur war hier eigentlich weibliche Schöpferkraft das tragende Motiv. DIE AUFNAHME. Raphaela Gromes: Femmes (Doppel-CD/Sony)

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WELTREISE

Der schwedische Kontrabassist Anders Jormin ist vor allem als langjähriger Mitstreiter von Jazzpianist Bobo Stenson bekannt, in dessen Trio Drummer Jon Fält Dritter im Bunde ist. Im März wird mit „Sphere“ ein neues Highlight des für seine weiträumigen Improvisationen bekannten Trios erscheinen. Jormin und Fält pflegen aber auch andere Projekte. Mit der charismatischen Sängerin Lena Willemark, die auch Geige und Bratsche spielt, und der Japanerin Karin Nakagawa, Virtuosin auf der 25-saitigen Koto, haben die beiden jenseits fester Stile und Genres das Album „Pasado en claro“ aufgenommen. Über dem pulsierenden Fundament aus Bass und Trommeln wehen die filigranen Klanggirlanden der Koto. Das ist eine japanische Zither, deren Saiten auf einem 1,80 Meter langen, leicht gewölbten Brett aus dem Holz des Blauglockenbaums gespannt und gezupft werden. In „Petrarca“ weben Jormin und Fält ein maschenreiches Klanggeflecht, durch das Nakagawa silbrig blitzende Fäden zieht. Hinzu tritt Willemarks warme Stimme, eine kehlige Melange aus Folk und Jazz. Auch wenn die Stücke hier englische oder spanische Titel tragen, singt die Schwedin ausschließlich in ihrer Muttersprache. In Liedern wie „Ramona Elena“ oder „Angels“ erzählt sie poetische Geschichten aus eigener Feder. Im Titelstück „Pasado en claro“ nach Octavio Paz setzen Bass und Drums mexikanische Akzente, während die Koto zart zwitschert und der elegische Gesang mit entrückten Vogelschreien wechselt. Ein versponnenes, versonnenes, aufregendes und berührendes Album, das zauberhaft zwischen Jazz, skandinavischen, südländischen und fernöstlichen Einflüssen balanciert. Beseelte Musik, die im Kopf noch weiterläuft, wenn der letzte Titel längst verklungen ist. DIE AUFNAHME. Jormin, Willemark, Nakagawa & Fält: Pasado en claro (ECM)

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VERLORENER FLÜGEL

Die Pianistin Angela Hewitt, die lange Zeit vor allem als Bach-Spezialistin galt, wird von der internationalen Kritik auch zunehmend für ihre Beethoven-Interpretationen gefeiert. Nach den 32 Solo-Sonaten für Klavier und den Cello-Sonaten, die sie mit dem deutschen Cellisten Daniel Müller-Schott aufgenommen hatte, widmete sich die Kanadierin jüngst sieben Variations-Zyklen Beethovens. Wie immer seit 2003 spielte sie auf ihrem persönlichen Fazioli-Flügel. Es sollte das letzte Mal sein. Unmittelbar nach den Aufnahmen Ende Januar 2020 in der Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem ließen die hauptstädtischen Transporteure das 600 Kilogramm schwere Instrument fallen, wobei sogar der Gussrahmen brach. Der Flügel, dessen Wert auf 140.000 Euro geschätzt wird und der über eine einzigartige Klangfarbenbalance verfügte, kann nicht repariert werden. „Ich habe dieses Piano abgöttisch geliebt“, trauert die Pianistin, „es war mein bester Freund. It’s kaputt …“ Der Mitschnitt aus der Berliner Kirche, inzwischen bei Hewitts Stammlabel Hyperion auf CD erschienen, ist damit eine Art Schicksalsdokument. Zu hören sind insgesamt 80 Kleinodien, darunter die 15 Variationen plus Fuge über das Thema aus der Eroica-Sinfonie und die 32 Variationen über ein Thema in c-Moll von 1806, also aus der Zeit, als die vierte Sinfonie und das Violinkonzert entstanden. Das fantastische Instrument war tatsächlich wie geschaffen für das sensible, detailreiche, ungemein transparente Spiel Angela Hewitts, ihre feine Phrasierung, die sich durch geschmeidigen Fluss auszeichnet. Das ist kein eruptiver, gigantischer Beethoven, wie ihn viele Pianisten den brillanten, klangfulminanten Steinways abringen, sondern Musik in natürlicher Klarheit. Das wirkt nicht „umwerfend“, wohl aber tief berührend. Es ist intelligentes und kultiviertes Spiel mit Stimmungen und Farbnuancen – ein buchstäblich unwiederbringlicher, einzigartiger Hörgenuss. DIE AUFNAHME. Angela Hewitt, Beethoven-Variationen auf dem Fazioli-Flügel (Hyperion/Note 1)

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COHEN & CO.

Der vielfach preisgekrönte Sänger und Lautenist Joel Frederiksen, Jahrgang 1959, der auch schon in Dresden gastierte, ist eine der interessantesten Stimmen auf dem Feld der Renaissance-Musik. Sein sonorer warmer Bass und sein subtiles Gefühl für die zeitlose Schönheit und Erhabenheit Alter Musik haben ihm viele Fans eingebracht. Der gebürtige US-Amerikaner ließ sich 1998, nach seinem Debüt bei den Salzburger Festspielen, dauerhaft in München nieder und gründete dort 2003 das Ensemble Phoenix Munich, das ihn seither in wechselnden Besetzungen begleitet. Mit den aktuellen Phönixen Emma-Lisa Roux (Laute, Sopran) sowie Hille Perl und Domen Marinčič (Viola da Gamba) hat er ein schon im programmatischen Ansatz außergewöhnliches Album aufgenommen: Sie haben populäre Songs des kanadischen Folk-Troubadors Leonard Cohen (1934-2016) mit Weisen aus der Renaissance koppelt. Auf „A Day With Suzanne“ treffen Cohen-Klassiker wie „Bird On A Wire”, „So Long Marianne”, „Hallelujah” und „Suzanne” auf thematisch verwandte Lieder von Orlando di Lasso, Pierre Guédron, Josquin Des Préz oder Henry Purcell, Altmeistern des 15. bis 17. Jahrhundert. Lauten und Gamben schaffen einen fein verflochtenen Hintergrund, vor dem Frederiksens profunder Bass und bisweilen Roux‘ klarer Sopran eine sensible, melancholische Stimmung erzeugen, aber nie sentimental werden. Das Album bietet eine beseelte und herzerwärmende Begegnung von bekannten Hits aus Folk-Pop mit uralter Tradition – eine Stunde tiefer Freude. DIE AUFNAHME. Joel Fredriksen, Ensemble Phoenix Munich: A Day With Suzanne – A Tribute To Leonard Cohen (dhm/Sony)

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BACHS SONATEN FEIN DOSIERT

Julia Fischer ist eine der besten Geigerinnen ihrer Generation. Johann Sebastian Bachs Sonaten und Partiten, die sechs „Solo â Violino senza Basso accompagnata“, wie er sie in der Reinschrift von 1720 nannte, nahm sie bereits vor über 18 Jahren auf. Die 2005 bei PentaTone erschienene Einspielung, die inzwischen außer als Doppel-CD auch auf Vinyl erhältlich ist, zählt bis heute zu den Referenzen. Am Abend des 9. Februar bot die Capell-Virtuosin dieser Spielzeit in der Semperoper die drei Sonaten in g-Moll, a-Moll und C-Dur dar und demonstrierte mit scheinbar beiläufiger Virtuosität die hohe Kunst, ein so kleines Instrument mit nur vier Saiten derart facettenreich mehrstimmig singen zu lassen. Im Gegensatz zu den drei Partiten, die Bach aus fünf bis acht Tanzsätzen wie dem Menuett, der Gigue oder der Gavotte baute, hat er die drei Sonaten viersätzig nach dem Schema „langsam – schnell mit Kontrapunkt – langsam – sehr schnell“ konzipiert. Julia Fischer bevorzugt eine Guadagnini von 1742, die in den höheren und tieferen Tonbereichen dezente Noblesse bietet und in den Mittellagen mit warmen, leuchtenden Klangfarben und hoher Elastizität fasziniert. Die Geigerin bot sanfte und versonnene Abschnitte wie das Grave und das Andante der a-Moll-Sonate oder das Largo der Schwester in C-Dur mit äußerster Zartheit dar, mit klarer Intonation und nur gelegentlich subtil dosiertem, straffem Vibrato auf langen Notenwerten. Die Botschaft hier: Wahre Größe bedarf nicht ausufernden Schmuckes. Diese Passagen leben von ihrer Binnenspannung und beziehen ihre Schönheit aus feinsten Nuancen. Was partiell so leicht wirken mag, ist spieltechnisch eine ungeheure Herausforderung. Die C-Dur-Sonate schichtet im einleitenden Adagio in einem dem Herzschlag entlehnten Rhythmus bis zu drei Klangspuren übereinander, bis dann die Fuge mit der doppelten Spiegelung von Thema und Kontrapunkt eine Komplexität bietet, die eigentlich ein Orchester erfordert. Kein Wunder, dass es hier emotionalen Zwischenapplaus gab. Dem Finale mit dem rauschhaften Wirbel der 32tel und dem elegisch auswehenden Schlusston folgte ein Moment tiefer, ergriffener Stille. Dann tosender Beifall, den die Künstlerin mit der an Doppelgriffen reichen und doch geschmeidig anmutenden Sarabanda aus der d-Moll-Partita dankte. Grandioser Abend.

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KÜHNER SIBELIUS

Diese Sibelius-Aufnahme ist eine Offenbarung. Der finnische Dirigent Santtu-Matias Rouvali, seit 2017 Chef der Göteborger Sinfoniker, ließ schon mit seiner Interpretation der ersten beiden Sibelius-Sinfonien aufhorchen. Nun hat er eine CD mit den Sinfonien Nr. 3 und 5 sowie der opulenten Tondichtung „Pohjolas Tochter“ herausgebracht, und abermals trägt sein kühnes Konzept tolle Früchte. Der 37-jährige Heißsporn mit der Popstar-Attitüde erregt schon länger Aufsehen. Hinter seiner leidenschaftlichen Arbeitsweise verbirgt sich komplexes Werkverständnis – insbesondere beim berühmten Landsmann: Jean Sibelius (1865-1947) ist Finnlands grandioser Beitrag zur Spätromantik. Zunächst beeinflusst von Tschaikowski und Wagner, emanzipierte er sich spätestens 1907 mit der dritten Sinfonie von den Vorbildern. Mit schlankem Orchester, hörbar abgesetzten Stimmgruppen und subtilen rhythmischen Verschiebungen zelebrierte er ein neuartiges, höchst agiles Kräftespiel. Folgerichtig erteilt Rouvali dem Legato-Kult und damit der wuchtigen Pathetik eine klare Absage. Seine Tempi sind flott, Transparenz erzeugt vielschichtige Tiefe. Er setzt auf Kontraste, nicht auf Überwältigung. Wohl noch nie ist die Dritte so nuanciert und lichtdurchflutet dargeboten worden wie hier von den Göteborgern. Die 1915 uraufgeführte Fünfte, obgleich etwas spröder, bestätigt den Eindruck. Rouvali zaubert mit fein abgestuften Klangfarben und raffiniert gebrochener Rhythmik. Ein interessanterer Sibelius ist derzeit nicht zu haben. DIE AUFNAHME. Santtu-Matias Rouvali, Göteborger Sinfoniker: Sibelius, Sinfonien 3 & 5, Pohjolas Tochter (Alpha/Outhere)

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VIVALDIS GESCHENK

Ein weiterer Geniestreich, und diesmal mit Dresdner Akzent: Zum zweiten Mal beteiligt sich der aus dem französischen Fontainebleau stammende 43-jährige Geiger Julien Chauvin an der grandiosen Vivaldi-Edition des Labels Naïve. Nummer 69 der Gesamtausgabe zum Werk des legendären Venezianers ist zugleich die bereits zehnte CD mit Violinkonzerten. Chauvin, der sich von seinem vor acht Jahren gegründeten Originalklangensemble Le Concert de la Loge begleiten lässt, hat diesmal sechs Concerti eingespielt, die mit dem Dresdner Geiger Johann Georg Pisendel verbunden sind, der 1728 Konzertmeister der Hofkapelle wurde. Ab 1716 hatte Pisendel den Kurprinzen Friedrich August, Sohn Augusts des Starken und später dessen Nachfolger auf Sachsens und Polens Thron, auf Kavalierstour durch Europa begleitet und dabei in Venedig Antonio Vivaldi persönlich kennengelernt, woraus ein inniges Lehrer-Schüler-Verhältnis erwuchs, das nach Pisendels Heimreise fortbestand. Drei der jetzt aufgenommenen Concerti, RV 237, 314 und 340, hat Vivaldi dem Deutschen persönlich gewidmet. Die drei anderen, RV 225, 226 und 369, hat Pisendel eigenhändig kopiert. Chauvin erfasst Esprit und Dynamik der Ecksätze exzellent, sein Ensemble begleitet ihn mit beseeltem Feuer. In den elegischen Mittelsätzen lässt der Franzose seine mit Darmsaiten bespannte Geige überirdisch schwelgen. Zum Niederknien ist vor allem das schwermütige Adagio des d-Moll-Concerto RV 237, das in Dresden als Autograph in Vivaldis Handschrift verwahrt wird. Ein Schatz in einer überragenden Aufnahme. DIE AUFNAHME. Intorno a Pisendel – Vivaldi, Violinkonzerte X, Julien Chauvin, Le Concert de la Loge (Naïve/harmonia mundi)

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BRUCKNERS URTEXT

Sir Simon Rattle, der dieser Tage seinen 67. Geburtstag feiert, war mehr als anderthalb Jahrzehnte Chef der Berliner Philharmoniker. Derzeit steht er dem London Symphony Orchestra vor, das meist kurz LSO genannt wird. Sein Vertrag dort läuft bis 2023. Danach übernimmt der gebürtige Liverpooler, der schon mit 39 von der Queen zum Ritter geschlagen wurde, das Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Er bleibt aber auf Lebenszeit Ehrendirigent des LSO. Mit dem hoch angesehen Klangkörper, der 1904 gegründet wurde und mit Leonard Bernstein, Claudio Abbado oder Colin Davis immer wieder große Persönlichkeiten an sich binden konnte, hat Rattle unlängst Bruckners Sinfonie Nr. 6 eingespielt. Er greift auf die neue „Urtext-Edition“ zurück, die Benjamin-Gunnar Cohrs 2016 herausgegeben hat. Der Musikwissenschaftler hat auf der Basis von Anton Bruckners Notizen frühe Korrekturen und Akzentuierungen berücksichtigt, die in den bisherigen Druckausgaben fehlten. Die außerordentlich klangschöne Live-Aufnahme aus dem Londoner Barbican lebt von der visionären Kraft dieser Musik und den extremen Stimmungswechseln. Einige Motive der Sechsten sind über die Klassik hinaus weltweit populär geworden. Die Filmmusik der Hollywood-Trilogie „Der Herr der Ringe“ ist beispielsweise voller Zitate aus dieser 1881 vollendeten Sinfonie, die mit ihren heftigen Kontrasten und dramatischen Schattierungen eines der originellsten und vielschichtigsten Werke der Spätromantik ist. DIE AUFNAME. Sir Simon Rattle, London Symphony Orchestra, Anton Bruckners 6. Sinf. (LSO Live/Note 1)

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VIOLONCELLO VITAL

Diese Aufnahmen sind eine Messe der Vielseitigkeit. Es erklingen schottische Volksweisen, die James Oswald um 1750 gesammelt und arrangiert hat, gefolgt von Solokonzerten und Concerti Grossi jener Zeit, Werke von Avison, Geminiani, Cirri und Porpora, die damals alle in London tätig waren. Außerdem sind eine Fuge des Dresdner Hofkapellmeisters Hasse, eine Arie aus Händels Oper „Alcina“ und eine Sinfonia aus dessen „Serse“ zu hören. Zwar wirken punktuell auch die Sängerinnen Sandrine Piau und Lucile Richardot sowie Oboist Gabriel Pidoux mit, doch den Löwenanteil bestreitet Solistin Ophelie Gaillard auf ihrem klangschönen Violoncello, vital und einfühlsam begleitet vom Ensemble Pulcinella. Obwohl die meisten der spätbarocken Stücke italienisch geprägt sind, verweist der CD-Titel „A Night In London“ darauf, dass diese Musik damals in der britischen Metropole besonders angesagt war. Händel und Porpora konkurrierten in London ums Opernpublikum, und Geminiani brachte der musikinteressierten Mittel- und Oberschicht das melodische Erbe seiner Landsleute Corelli und Vivaldi nahe. Gaillard spielt auf einem mit Darmsaiten bespannten Instrument, das 1737 in der Werkstatt des Venezianers Francesco Gofriller gebaut wurde, dessen Vater wohl Stradivari-Schüler war. Ihr Zugriff ist temperamentvoll, gelegentlich verträumt. Sie vereint auf berührende Art Leidenschaft und kantablen Schmelz: Barockmusik war stets auch Ausdrucksträger für Sehnsüchte, Affekte, Emotionen. DIE AUFNAHME. Ophelie Gaillard, Pulcinella: „A Night In London”, Musik von 1750 auf dem Violoncello (Aparté/harmonia mundi)

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JAZZ ZU VIERT

Sowohl Trompeter Mathias Eick als auch Schlagzeuger Manu Katché, beide renommierte Größen ihres Fach, haben mit unterschiedlichen Begleitern schon tolle Jazz-Alben bei ECM eingespielt, insgesamt gut zwanzig. Meistens sind sie die Bandleader. 2007 agierten sie zusammen auf Manu Katchés „Playground“. Diesmal assistieren sie einem aufstrebenden Pianisten bei dessen ECM-Debüt. Benny Lackner, 1976 in Berlin geboren, ist Deutschamerikaner. Seine deutschen Großeltern väterlicherseits wanderten in den 1930ern nach Kalifornien aus, und er pendelt zwischen beiden Welten, was im Jazz nichts Seltenes und vor allem selten von Nachteil ist. Bislang trat er vor allem mit seinem Trio auf, in dem Jérome Regard seit anderthalb Jahrzehnten den Kontrabass spielt. Der Franzose komplettiert nun mit seiner dezenten, bündigen Bass-Arbeit eine durch und durch organische Aufnahme zu viert. Die neun Stücke, die mit einer Ausnahme aus Lackners Feder stammen, entwickeln sich über entspannter, aber rhythmisch facettenreicher Basis zu atmosphärisch dichten Klangbildern. Lackners Klavierläufe klingen erfrischend, bisweilen prickelnd, Eicks Trompetenton hat etwas verhalten Leuchtendes, und in Stücken wie „Circular Confidence“, „My People“ oder „Last Decade“, dem Titelsong des Albums, überlagern und verflechten sich die Stimmen sehr schön. Die Wechsel zwischen Teamwork und Soli und die Melange aus Komposition und Improvisation generieren allerfeinsten Vierer-Jazz fast ohne Steuermann. DIE AUFNAHME. Benjamin Lackners Quartett mit Mathias Eick, Manu Katché und Jérome Regard: Last Decade (ECM)

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GAMBENZAUBER

Lucile Boulangers Auftritt beim Schütz-Fest im Herbst 2020 war eines der Highlights dieses feinen Festivals. Die französische Gambistin spielte damals im faszinierenden Klangraum des restaurierten Pumpenhauses an der Dresdner Marienbrücke Stücke von Johann Sebastian Bach und Carl Friedrich Abel. Diese und einige weitere Solowerke der beiden deutschen Komponisten sind jetzt auf einer starken Doppel-CD erschienen. CD 1 ist mit „La Chair“ überschrieben, CD 2 mit „L’Esprit“, was für Fleisch und Geist steht. C. F. Abel wurde 1723 in Köthen geboren, wo sein Vater „premier-musicus“ in J. S. Bachs kleinem Hoforchester war. Von Leipzig aus empfahl Bach später den talentierten Junior für Hasses Dresdner Hofkapelle. Berühmt wurde Abel vor allem durch seine Soloabende in London, wo er ab 1759 lebte und als Gambenvirtuose Kammermusiker von Queen Charlotte wurde. Lucile Boulanger hat diverse Stücke Abels in d-Moll und D-Dur zu Sonaten zusammengestellt, die sie auf einer siebensaitigen Bassgambe spielt. Dazu hat sie Einzelsätze Bachs, die für Cembalo, Cello oder Geige konzipiert waren, für ihr Instrument transkribiert und unter anderem zu einer Suite in D-Dur und einer Sonate in a-Moll gebündelt. Abgesehen davon, dass die große Viola da gamba unter Lucile Boulangers Händen erhabenen Zauber entfaltet, stellt die Solistin neue, bislang nie gehörte Werkszusammenhänge her, die äußerst reizvoll sind. Eine 5-Sterne-Aufnahme, mit der die junge Gambistin ihren Ausnahmerang beweist. DIE AUFNAHME. Lucile Boulanger, Bach & Abel, Solowerke auf der Bassgambe (Doppel-CD Alpha/Outhere)

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MENA MIT MOZART UND MAHLER

Wiener Wochenende im Kulturpalast: Die Klassiker Haydn und Mozart, mit Musik aus den 1780ern vertreten, trafen auf Mahler, der um 1900, als er seine 4. Sinfonie schrieb, Chef der Wiener Hofoper war. Von der fein ausbalancierten Eleganz und dem hintergründigen Witz Haydns bis zur spätromantischen Ausdruckstiefe Mahlers ist es vermeintlich ein weiter Weg. Doch mit Juanjo Mena, dem charismatischen Basken, der mit der Dresdner Philharmonie nicht zum ersten Mal zu großer Form auflief, gastierte ein Dirigent, der Brücken zu schlagen versteht. Bei aller Verschiedenheit, die Zeiten und Moden geschuldet ist, verbindet Haydns 85. und Mahlers 4. Sinfonie eine unsichtbare Klammer aus Frische und Transparenz. Das mag verblüffen, denn oft fallen uns bei Haydn Begriffe wie Strenge und Sprödheit ein und bei Mahler Pathetik und Überwältigung. Doch wer am Sonnabend Menas grandiose Darbietung mit der Philharmonie und ihrer geschmeidigen, subtil abgetönten Spielkultur erlebt hat, der wird vielleicht zustimmen: Es liegen keine Welten zwischen diesen Werken. Die heute „La Reine“ titulierte B-Dur-Sinfonie schrieb Haydn um 1785 für eine Pariser Konzertreihe. Später wurde ihr ein Bezug zu Königin Marie-Antoinette angedichtet. So oder so steckt sie voller Anmut und Schwung, und das war hier zu hören. Über dem straff gefederten Grund der nahezu vibratofrei agierenden Streicher sang im Vivace die Oboe von Johannes Pfeiffer, zwitscherte die Flöte von Kathrin Bäz, raunten die Musen ihr Wohlgefallen. Vom kecken Allegretto bis zum flotten Finale regierte der Esprit, blitzte immer wieder Haydns Humor auf. 3-D-Kunst aus Dynamik, Detailtreue und Durchsichtigkeit: Juanjo Menas Ansinnen, die Musik atmen zu lassen, trug Früchte. Das galt später auch für das spürbar komplexere Material von Mahlers G-Dur-Sinfonie, die 1901 noch missverstanden wurde und durchfiel, hier aber Begeisterung erntete. Im Kopfsatz klangen nicht weniger als vier Themen an, die dann kühne Metamorphosen durchliefen. Das Gewebe blieb transparent. Überm Silber des schlanken Streichersounds entfalteten sich klar konturiert die klangschönen Soli der Holzbläser und Hörner. Wenn hernach Hornist Michael Schneider besonders stürmisch gefeiert wurde, hatte das mit der Gänsehaut zu tun, die er hier ins Publikum zauberte. Das Wechselspiel zwischen Elfenreigen und Totentanz im zweiten Satz war ein Hochgenuss, emotional übertroffen nur vom folgenden Adagio. Als dessen Melodiegespinst, hauchzart in den Bratschen und Celli geboren, über die zweiten zu den ersten Geigen und den Bläsern wanderte, da war es, als hielte das Konzertvolk kollektiv den Atem an. Im vierten Satz besang dann die erfahrene Britin Sally Matthews „die himmlischen Freuden“. Ihr flammender Sopran, wie geschaffen für Strauss-Lieder oder Wagners Fliegenden Holländer, ließ allerdings Wünsche offen. Sie legte Inbrunst in die Zeilen aus „Des Knaben Wunderhorn“, doch fehlte es den Höhen an Klarheit. Ihr potentiell schönes Timbre litt unter exzessivem Vibrato und Trübungen bei den Vokalen und reichlich Gaumen bei den Konsonanten. Das war auch schon vor der Pause das Manko, als sie mit „Benigne stelle“ und „Dove sono i bei momenti“ zwei Mozart-Arien gab: viel Hitze, doch zu wenig Luft und Licht. Ungeachtet dessen ein großartiger Abend: Die Freude badete im Jubel. Foto: Dirigent Juanjo Mena ©DR

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