top of page

Feuilleton

In über 30 Jahren sind mehr als 800 Feuilletons entstanden, die meisten davon als Kolumnen für die Sächsische Zeitung. Hier einige neuere Texte.

DSC_7626-Prag.JPG

SVIČKOVÁ IN PRAHA

Der Kater Vivaldi maunzte erschrocken. Tante Elfriede hatte sich, während sie ihm das Genick massierte, derart in Rage geredet, dass sie ihn beinahe erwürgt hätte. Sie glich dieser Tage einem Pulverfass und konnte jederzeit explodieren. Der Mangel an Sonnenschein, die düstere Kürze der Tage und der Vorweihnachtsstress, all das schien ihre mentalen Reserven angegriffen, wenn nicht gar aufgebraucht zu haben. Sie rieb sich an den üblichen Themen auf, die landauf, landab die Gemüter bewegten und zu denen gewisse Medien aus ihrer Meinungsblase heraus gebetsmühlenartig die angeblich einzige korrekte Deutung lieferten, was Tante Elfriede noch mehr aufbrachte. Wenn sie so in Fahrt geriet, wurde das Körnchen Wahrheit, das in vielen ihrer Gedanken steckte, vom groben Duktus trotzigen Widerspruchs gnadenlos zu Staub zermahlen, und dann hörte ihr niemand mehr richtig zu. Ich war noch froh, dass sie bei ihren Tiraden das Thema Fußball-WM aussparte. Glücklicherweise war sie wegen einer Urlaubsliebschaft in jungen Jahren, in deren Verlauf sie einem gewissen Karel aus Milovice nad Labem ziemlich nahe gekommen war, bei derlei Anlässen Fan der Tschechen. Doch die hatten es wie die Italiener vorgezogen, in der Qualifikation für die Wüsten-Endrunde zu scheitern, um sich nicht vor Ort von früh bis spät den Kopf über den sachgemäßen Umgang mit sexuellen Neigungen zerbrechen zu müssen. Es war ein Glücksfall, dass mir dieser Karel einfiel, denn auch wenn Tante Elfriede schon weit über 80 ist, leuchten ihre Augen, wenn sie an ihn erinnert wird. Keiner muss denken, dass Menschen nach Eintritt ins Rentenalter die Abenteuer vergessen, die sie vor Jahrzehnten gehabt haben. Manche sind sogar, wenn stimmt, was man aus gut geführten Seniorenresidenzen hört, fast so lange aktiv wie Noahs legendärer Großvater Methusalem. Der zeugte noch mit 187 Jahren einen Sohn, falls Chronist Moses sich im Überschwang religiöser Begeisterung nicht verrechnet hat. Rund um den Glauben wird bekanntlich viel geschwindelt, wenn auch meistens zu einem guten Zweck. Und zum vermeintlichen Geburtstag von Marias außerehelichem Sohn alljährlich ein Riesenbrimborium abzuziehen, das hat ja auch was. „Sag mal“, sagte ich also zu Tante Elfriede, „den Karel, von dem du manchmal erzählst, hattest du den nicht in Prag kennengelernt? Was hältst du von einem Ausflug in die Goldene Stadt?“ Sofort war ihr Missmut wie weggeblasen. „Oh ja“, rief sie, „das war 1962 auf der Karlsbrücke! Und obwohl der Karel längst aus meinem Leben verschollen ist, würde ich furchtbar gern mal wieder Svičková essen, den wunderbaren tschechischen Sauerbraten, wie damals in dem Restaurant an der alten Mühle, als der Karel bezahlt hat.“ Also saßen wir anderntags im EC 171 nach Prag, stromerten bereits gegen Mittag den Wenzelsplatz hinunter, am Rathaus mit der mehr als 600 Jahre alten astronomischen Uhr vorbei Richtung Karlsbrücke, von der aus sie damals mit dem Karel in die Moldau gespuckt hatte, die er, obwohl er Deutsch konnte, Vltava nannte. Sie erklärte uns die Statuen, hier der Wenzel, da der Nikolaus, dort der Johann Nepomuk, nicht zu vergessen die heilige Ludmila, Böhmens erste christliche Fürstin. Tante Elfriede kannte sich aus. Sie trug den Kater auf dem Arm, was Vivaldi sehr gefiel. Ich erzählte vom Golem, der von einem Prager Rabbi aus Lehm erschaffen und zum Leben erweckt worden war, ein riesiger Bursche, der die Juden schützte und Katzen gern hatte, auch wenn das nicht wasserdicht bewiesen war. Im „U tri zlatych hvezd“, dem Kleinseitner Wirtshaus „Zu den drei goldenen Sternen“, aßen wir Riesenportionen Svičková zu 279 Kronen, was etwa 11 Euro entsprach. „Unbezahlbar“, murmelte Tante Elfriede und strahlte. „Ist gar nicht so schwierig, gute Laune zu haben. Jetzt kann Weihnachten kommen.“ (Kolumne vom Dezember 2022, veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung)

IMG_0429-Hase.JPG

WISSEN, WIE DER HASE LÄUFT

Da sitzt sie lächelnd auf unserer Couch, den Kater Vivaldi auf dem Schoß, der unter ihren kundigen Streichelhänden schnurrt, alle Zeichen stehen auf Idylle, doch der Schein trügt. Tante Elfriede ist wütend. „Ich bin gestern beleidigt worden“, sagt sie. Wenn sie die Stimme derart senkt, dann ist ihr das wirklich nahegegangen. Sie setzt sich gern in Cafés: Bienenstich, Cappuccino, später ein Gläschen Silvaner, da spart sie nicht am falschen Fleck, wie sie sagt. Und sie fängt Gespräche an, von Tisch zu Tisch, „wie früher, als es noch gang und gäbe war, sich über alltägliche Ansichten, außer über Honecker und seine Frau, offen auszutauschen. Der Experte hat Fachkenntnisse, das Volk Hintergrundwissen. Heute reagieren viele Leute pikiert oder zumindest verwundert, wenn ich als Fremde sie anspreche. Doch mitunter bricht das Eis.“ Sie glaubt, dass mittlerweile eher in den „asozialen Medien“ diskutiert wird, wie sie Facebook, Twitter und Co. spöttisch nennt, „dort aber kaum, um wirklich zu argumentieren, sondern um sich unter Gleich- oder Ähnlichgesinnten gegenseitig rechtzugeben und gemeinsam über angeblich dumme, böse und gefährliche Dritte herzuziehen.“ Wenn sie sich im Café unterhalte, sagt sie, habe sie lebendige Wesen vor sich, mit Augen und Ohren. Da schaue man einander noch an beim Sprechen und Zuhören. Sie kann bei vielen Themen mitreden, sie hat, seit sie mit sechs die Welt der Buchstaben eroberte, unheimlich viel gelesen, sie ist gern in ihre Schule gegangen und hat danach nie aufgehört zu lernen. Manchen ihrer Gesprächspartner ist es unheimlich, wenn sie eben noch den Irrglauben entlarvt hat, an Spaghetti Carbonara gehöre Sahne, danach aber über Kants ,Kritik der Urteilskraft‘ und Hegels dialektischen Ansatz sinniert, wonach Verstand und Vernunft im Widerstreit liegen können und Widerspruch grundsätzlich notwendig und überlebenswichtig ist, wenn du wissen willst, wie der Hase läuft. „Und da sagt doch dieser nette Herr aus dem schönen Münsterland, dem ich mein halbes Leben erzählt habe und der kopfnickend zugehört hat, solange ich ihn über die Atemtechniken in den verschiedenen Phasen des Geburtsvorgangs, die Geheimnisse organischer Alpenveilchendüngung und strategische Fehler bei der Unterstützung korrupter Systeme im vermeintlichen Bündnisfall aufgeklärt habe, da sagt der doch zur mir: ,Für eine Hebamme im Ruhestand sind Sie erstaunlich belesen, vor allem wenn man bedenkt, dass Sie in der DDR zur Schule gegangen sind.‘ Das hat der wörtlich so gesagt und es war wohl gar als Kompliment gemeint!“ Inzwischen habe sie manchmal das Gefühl, sagt sie, dass die Herablassung gegenüber Menschen, die hier aufgewachsen sind, weiter zunimmt. „Die Mauer ist seit 33 Jahren weg, das ist länger, als sie gestanden hat oder als der Abstand zwischen dem Beginn des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Doch dann kommen Leute daher, die mit Pampers und Alf aufgewachsen sind und nur mit Müh und Not Freiberg und Freital auseinander halten, und erzählen mir in den Medien, wie schrecklich und furchtbar hier im Osten das Bildungssystem war. Derzeit häufen sich diese Geschichten. Angeblich wurden wir Schüler permanent schikaniert und gepeinigt, und es ging von früh bis spät nur darum, aus uns brave Soldaten des Sozialismus zu machen. Mich hat nie ein Lehrer mit dem Schlüsselbund beworfen oder vor der Klasse bloßgestellt. Dafür weiß ich seit der sechsten Klasse, dass Heinrich 919 deutscher König und die Uni Heidelberg 1386 gegründet wurde, ich kenne den Zusammenhang von Ursache und Wirkung in der Natur und in der Politik, ich weiß, wer an Kriegen verdient und wer nicht, und ich habe den Eindruck, dass in punkto Bildung, Klugheit und Intelligenz Angela Merkel in einer ganz anderen Liga spielt als, sagen wir, wie heißt die doch gleich …“ (Kolumne vom November 2022, veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung)

DSC_1144-Museum.JPG

MIT DEM MESSER INS MUSEUM

Auch wenn Tante Elfriedes heiße Reise nach Paris schon wieder Geschichte ist und sie derzeit den kühlen Herbst in Dresden und Umgebung genießt, abends vorzugsweise bei Kerzenschein, um Strom zu sparen, spricht sie noch ständig über die schöne, ungemein lebendige Stadt an der Seine. „Du musst wissen“, sagt sie, während sie den Kater Vivaldi krault, der am Montmartre eine äußerst elegante schwarze Katze kennengelernt hat, der er nun nachtrauert, „du musst wissen, dass mich die Metro nicht so sehr beeindruckt hat. Es mag zwar faszinierend sein, neben der Oper in einem Loch zu verschwinden und fünf Minuten später aus einem anderen Loch unweit von Notre-Dame wieder ans Licht zu steigen, aber es hat auch etwas Maulwürfiges, die meisten Wege unterirdisch zu erledigen.“ Sie hat lieber den Bus genommen, auch wenn die Fahrt etwas länger dauerte und es manchmal nicht ganz leicht war, die richtige Linie zu finden. Zum Beispiel wollte sie zu der Adresse im Quartier Latin, wo Ernest Hemingway gewohnt hatte, und das war von Moulin Rouge aus, wo sie wohnte, mit der 74 und der 47 kein Problem. „Mir ist aufgefallen“, sagt sie, „dass man in Paris für 1,69 Euro anderthalb Stunden herumfahren kann, ganz gleich, wie viele Linien man benutzt. In Dresden ist das einfache Ticket um die Hälfte teurer, und es gilt nur für eine Stunde.“ Gefallen hat ihr auch, dass viele Leute, wenn sie vorn in den Bus steigen, den Menschen am Lenkrad mit „Bonjour Monsieur“ oder „Bonjour Madame“ begrüßen, denn in Paris werden sehr viele Busse von Frauen gesteuert. „Die meisten Franzosen sind, wie mir scheint, aus irgendeinem Grund höflicher und freundlicher als wir Deutschen“, sinniert Tante Elfriede, „auch wenn unsere Sprache natürlich wesentlich verständlicher ist, zumindest für mich.“ Bei Stress ist das besonders markant. Was war das für eine Aufregung, als die Sicherheitsinspektorin am Museumseingang bei Tante Elfriede ein Messer entdeckte, das die seit der Zugfahrt spazieren trug. So eine Handtasche ist ja ein Behälter von erstaunlichem Fassungsvermögen, da ist es nicht leicht, den Überblick zu behalten. Die französische Kontrolleurin, Mitte 30, war einen Kopf größer als die betagte deutsche Missetäterin und gut doppelt so gewichtig. Ihr dunkles Antlitz ließ vermuten, dass es Vorfahren in den ehemaligen Kolonien gab, Elfenbeinküste, Senegal, Guinea, Niger – auch Frankreich hatte, was das betraf, eine düstere Vergangenheit. Kurz gesagt, wie die respektable Inspektorin da stand und stirnrunzelnd das deutsche Küchenmesser in der großen schwarzen Hand wiegte, das hatte für Tante Elfriede etwas Schicksalhaftes, und sie wusste, dass sie daran selbst schuld war. Sie nahm ihre spärlichen Sprachkenntnisse zusammen und murmelte verlegen: „Ist tres petit, ganz klein, für fruits, pommes, äppel schnippeln.“ Die Sicherheitsfrau erwiderte mit tiefer Stimme und überraschenderweise auf Deutsch: „Nein, Madame. Ist nicht klein. Ist groß genug, für Bär zu töten.“ Und das stimmte. Die Klinge maß gut zehn Zentimeter, Tante Elfriede hatte, was ihre Küchenmesser betraf, nie gegeizt, und jetzt war sie drauf und dran, das gute Stück einzubüßen. Vielleicht würde man sie sogar verhaften. „Voila, Madame, ist nicht schlimm“, sagte die Frau aber und lachte versöhnlich, „braucht man Messer oft. Nur geht nicht mit reinnehmen.“ Sie rief einen spacken Burschen zu sich, der über der Dienstuniform eine komplizierte Haarbommel trug und auch sonst wie ein Praktikant unserer Tage wirkte, und beauftrage ihn, „cette Lady allemande“ zur Garderobe zu begleiten und darauf zu achten, dass sie die Tasche mit dem Messer darin dort abgab. „Und dann hat die mir lächelnd ,einen schönen Tag noch, Madame‘ gewünscht“, erinnert sich Tante Elfriede, „und den hatte ich. Den hatte ich wirklich.“ (Kolumne vom Oktober 2022, veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung)

DSC_0864-Verspätung.JPG

SPÄTER NACH PARIS

Tante Elfriede hat es nicht mehr so mit dem Reisen. Sie vermisse unterwegs ihre vertraute Umgebung, sagt sie, insbesondere ihr Bett, ihre Couch und ihren Kühlschrank. Sie habe absolut keine Lust, irgendwo im Stau zu stecken oder auf einem Flughafen vergeblich auf den Anschluss zu warten, weil die Piloten streiken oder sich Umweltschützer mit Uhu-Leim an ein Triebwerk geklebt haben. Als wir ihr aber zum paarundachtzigsten Geburtstag eine Zugreise nach Paris schenkten, Hin- und Rückfahrt in modernsten Schnellzügen, Hotel in Montmartre und ein Besuch bei Vincent van Gogh, knickte sie ein. Wie alt sie genau geworden ist, darf ich nicht verraten. Sie ist der Ansicht, dass sie zwei Jahre jünger aussieht, als sie wirklich ist, wenn nicht gar drei, und das wolle sie auskosten. Wir standen dann morgens pünktlich in Dresden-Neustadt am Gleis 6, an dem uns der ICE 1652 um 8.19 Uhr aufsammeln und nach Frankfurt am Main bringen sollte, mit direktem Anschluss zum TGV 9552 nach Paris, wo wir, wenn alles gut ging, noch vor 17 Uhr eintreffen würden. Es ging aber nicht alles gut. Drei Minuten vor der geplanten Abfahrt wurde teilnahmslos durchgesagt, der ICE 1652 sei heute gestrichen. „Wieso wird der gestrichen?“ Tante Elfriede, die eben noch hektisch nach ihrer Maske gekramt hatte, runzelte die Stirn. „Und was bedeutet das? Müssen wir da jetzt warten, bis die Farbe trocken ist?“ Sie hatte diesen ungläubigen Ausdruck, den ich sonst an ihr beobachte, wenn sie einer Rede unserer Außenministerin lauscht. Da inzwischen auf dem Nachbargleis der RE 50 eingefahren war, der mit sieben Zwischenhalten nach knapp zwei Stunden Leipzig erreichen könnte, ein erster kleiner Schritt Richtung Paris, bugsierte ich Tante und Kater in den rappelvollen Bummel-Express, und schon ging es los. Ich will es kurz machen: Wir gelangten später von Leipzig nach Erfurt, erreichten am Nachmittag Frankfurt, fuhren von dort nach Karlsruhe, dann ein bisschen Richtung Marseille, um schließlich in Strasbourg, das die Deutschen gern Straßburg nennen, einen Zug zu erwischen, der uns letztlich an der Gare de l’Est ausspuckte, dem Pariser Ostbahnhof, vier Stunden später als gedacht. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben? Wer später ankommt, erreicht dennoch das Ziel. Obwohl wir nun für keinen der Züge Reservierungen hatten, fand sich zumindest für Tante Elfriede, auch wenn sie mehrmals umziehen musste, immer ein Plätzchen. Die Menschen, neben denen sie zu sitzen kam, wussten es womöglich zu schätzen, dass sie nach ihren Lebensumständen, Vorlieben und Meinungen ausgefragt wurden, nach Kindern, Leibgerichten, Lieblingsschauspielern. Die Tante erklärte im Nachhinein, sie habe lange nicht mehr so viele Leute getroffen, die in den meisten Dingen ihrer Meinung sind, und sie habe sogar etwas dazugelernt: „Oder wusstest du“, fragte sie mich, „dass der Habeck gar kein Schauspieler ist?“ Dann also Paris. Von ihrem Zimmer mit Blick aufs Vergnügungsviertel war sie hellauf begeistert. Sie stellte sich vor, Toulouse-Lautrec, der am Montmartre gewohnt hatte und in den Cafés Stammgast gewesen war, böge um die Ecke, oder van Gogh, die Pfeife im Mundwinkel, käme aus der Boulangerie gegenüber, ein Baguette unterm Arm. Aber da konnte sie lange warten. „Von den Künstlern hier“, sagte sie und musterte die Passanten, „scheint keiner so bekannt zu sein, dass ich ihn kenne.“ Anderntags besuchten wir das Musée d’Orsay, einen stillgelegten Bahnhof, in dem seit 1986 Kunst gezeigt wird, darunter van Goghs berühmtes Selbstporträt ohne Mütze und mit rotem Bart. „Tolles Bild“, meinte Tante Elfriede. „Vincent sieht hier aus wie unser Michael Kretschmer, nachdem er den Fernsehfuzzi Lanz darüber aufgeklärt hat, dass Frieden wichtiger ist als alles andere.“ Da hat sie recht. (Kolumne vom September 2022, veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung)

DSC_9193-Auvergne.JPG

MONSTER IN DER AUVERGNE

Tante Elfriede hielt uns täglich über die Vorgänge daheim auf dem Laufenden, während wir auf der Suche nach dem Heiligen Gral die Auvergne im Herzen Frankreichs durchstreiften. Dank ihr wussten wir von Trockenheit und Waldbränden, nicht zu vergessen die vom unaufhaltsamen moralischen Niedergang gewisser Eliten zeugenden neuesten Affären. Wir hatten ihr die weite Reise nicht zumuten wollen, zumal sie meinte, der Heilige Gral sei ihr wurscht und das sogenannte Ausland reize sie nur noch als Schauplatz von Tier- und Geschichtsdokus auf 3sat und Arte, vorausgesetzt, sie habe ein Glas Rotwein und eine Chipstüte in Reichweite. Auvergne also. Obwohl die Quellen von Loire und Allier nahe beieinander liegen, begegnen sich die beiden Flüsse erst nach über 400 Kilometern. Während der Allier sich gradlinig nordwärts durch das Zentralmassiv gewühlt hat und durch tiefe, schroffe Schluchten gurgelt, schlägt die Loire einen sanften Bogen ostwärts um die Berge herum, um dann im nordwestlichen Burgund den wilden Gefährten in sich aufzunehmen. Sie ist den längeren, aber leichteren Weg gegangen. Doch es ist der Allier, in dem neuerdings wieder Lachse aus dem Atlantik laichen, ein Fluss, dessen Wasser am Oberlauf so sauber ist, dass ich beim Schwimmen die Punkte auf den Fischen zählen kann. Über dem Allier ragen die mittelalterlichen Burgen von Saint-Ilpice und Chilhac auf. Chilhac ist ein Ort mit derzeit 171 Menschen und 27 Katzen, von denen der Kater Vivaldi in nur drei Nächten zwölf geschwängert haben soll, falls stimmt, was man sich in der einzigen Bar erzählt. Wir wohnten im Haus neben Bar und Burgtor, mit Blick hinüber zu den Berghängen, an denen man urzeitliche Rüsselriesen ausgegraben hat, sogenannte Südmammuts und Mastodonten. Abends stiegen wir über den steilen Serpentinenpfad an der Felswand hinunter zum Fluss, um uns in seinen kühlen Fluten zu laben. Der Kater wurde mehrfach von der Strömung fortgerissen, schaffte es aber jedes Mal, sich in einer der nächsten Kurven von der Fliehkraft ins Weidengesträuch treiben zu lassen, wo er sich festkrallte, bis er wieder die Kraft hatte, an Land zu klettern. All das hat ihm gutgetan, er ist inzwischen ein richtiger Muskelkater. Als am Ufer eine aggressive Neufundländerin nach ihm schnappte, verpasste er ihr einen Nasenstüber, dass sie entsetzt aufjaulte wie ein Minenspürhund, wenn er fündig wird und weiß: Ende Gelände. Immerhin erwies sich Vivaldi als smarter Diplomat und versicherte der übergriffigen Dame, die beim Hecheln auf frappierende Weise an eine deutsche Politikerin erinnerte, dass sie fürderhin nichts zu befürchten habe, so sie ihm nicht auf den Sack gehe. Er hat im Grunde nichts gegen Hunde, im Gegenteil, zu Hause in Dresden liebt er es, mit dem gutmütigen Mischlingsmädchen Paula aus der Nachbarschaft zu kuscheln. Es ist eben immer konkret. Oberhalb von Chilhac sind Überreste von zwei Millionen Jahre alten Riesen ausgegraben worden, die sich letztlich nicht vertragen haben. Ich weiß nicht, ob das exakt ist: Die Rede ist vom Mammuthus meridionales und vom Anancus arvernensis, fünf Tonnen schweren Giganten, die Stoßzähne von der Länge eines Porsche hatten, den damals aber noch keiner brauchte, weil Potenzprobleme unbekannt waren. Die beiden frühen Riesenrüsseltierarten, die sich kaum mehr unterschieden als heute bei den viel kleineren Menschen zum Beispiel Russen und Ukrainer, konkurrierten einst erbarmungslos. Eine Art starb dann aus, die andere ließ sich lange Haare wachsen und existierte als Wollmammut noch so lange, bis die Eiszeit und der Homo sapiens ihr den Garaus machten. Wir haben einige der in Chilhac aufbewahrten Schädel und Zähne gesehen, da bleibt einem die Spucke weg. Den Heiligen Gral haben wir noch nicht gefunden. Vielleicht taucht er erst auf, wenn die Menschheit den Löffel abgegeben hat. (Kolumne vom August 2022, veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung)

DSC_3822-Bärenfels.jpg

FAUST IN BÄRENFELS

Tante Elfriede hat sich in den Kopf gesetzt, die ganze Runde zu Fuß zu gehen, und da gibt es keine Diskussion. „Ich bin zwar nicht mehr die Jüngste“, sagt sie und kichert, „aber wer ist das schon!“ Als blutjunge Hebamme verbrachte sie in den späten 50ern und frühen 60ern des vorigen Jahrhunderts mehrmals ihren Urlaub im Kurort Bärenfels, „in gewisser Weise eine wunderbare Zeit“, wie sie schwärmt, und sie will uns, wie sie sagt, von Schauplatz zu Schauplatz führen. Wir sind mit dem Bus von Dresden über Kipsdorf bis zur Haltstelle Bärenplatz Parkplatz gefahren, was uns dank der 9-Euro-Tickets keinen Cent extra gekostet und genau eine Stunde gedauert hat, und der Kater Vivaldi fährt sowieso gratis. Ihn interessiert nicht die Bohne, was Tante Elfriede uns zeigen will, er lässt sich von mir tragen. Ich verstehe ganz gut, dass sie sich noch einmal umschauen will, und zwar nicht alleine. Zunächst zeigt sie uns die Stelle, wo das 1902 errichtete prachtvolle Kurhotel Kaiserhof stand, das zu ihrer Zeit FDGB-Ferienheim war. „Nach 1989 ist es inmitten von Kohls blühenden Landschaften verfallen. Niemand wollte mehr hier Urlaub machen. Die Leute flogen nach Mallorca, Hurghada oder Antalya. Vor ein paar Jahren wurde die riesige Ruine letztlich abgerissen“, berichtet sie. „Der FDGB vermittelte Urlauber auch in private Häuser. Ich war in der Villa Marie oder im Haus Helene untergebracht und habe, glaube ich, für knapp zwei Wochen 48 Mark bezahlt.“ FDGB bedeutete Freier Deutscher Gewerkschaftsbund. Solche Wörter gibt es heute gar nicht mehr. Ferienheime in dem Sinne schon gar nicht. Am hölzernen Uhrturm, wo Böhmische und Bärenstraße aufeinander treffen, bleibt sie stehen. „Hier war der Lebensmittelladen von Frau Wilhelm und danach die Eisdiele von ihrer Tochter, die verheiratet Sartor hieß. Wenn ich mich nicht täusche, wurde eine Enkelin von Frau Wilhelm, die Sartor-Diana, später Weltmeisterin in einer Sportart, bei der man auf einem Minischlitten bäuchlings eine Bobbahn runterdonnert.“ Sie zeigt uns das Café-Haus, in dem sie sich „beim Edelmann“ den Bauch mit Sahnetorte vollgeschlagen hat, und dann, gleich um die Ecke und nicht minder legendär, den Gasthof. „Den führten damals die Köbes. Deren Tochter, die Bärbel, war ungefähr mein Alter, und ich habe öfter mit ihr Kaffee getrunken. Geschichten kannte die! Ihre Mutter Käthe wurde 1940 scharf verwarnt, weil sie den Gasthof abends nicht korrekt verdunkelt hatte. Den Bäckermeister Edelmann und den Kempe-Max, einen Waldarbeiter, erwischte es auch. Steht alles in der Chronik, die der Gerhardt-Siegfried verfasst hat.“ Sie erzählt, dass im Gasthof Kurt Masur die erste seiner drei Hochzeiten gefeiert hat und dass dort oft der Puppenspieler Paul Hölzig auftrat. „Großes Theater im Grunde. Ich erinnere mich an Undine, die Wassernixe und an Fausts Höllenfahrt. Tanz war hier auch jede Woche, mit der Kapelle vom alten Köbe-Fritz und später vom Weber-Ernst und Balling-Josef, oder weiter oben im Ort, in der schmucken Felsenburg. Hier oder da trafen wir die besten Männer der Umgebung, ich kann dir sagen! Keiner von denen war so ein Weichei, wie ich sie aus der Stadt kannte, und die konnten alle prima tanzen. Die meisten von denen haben ehemalige Urlauberinnen geheiratet. Ich konnte mich gerade so retten.“ Ihre Augen blitzen, und ich frage nicht. Im Kurpark führt sie uns zum Turm mit dem Glockenspiel, das dem Ort von der Meißener Porzellanmanufaktur geschenkt wurde, die in Bärenfels ein eigenes Ferienheim hatte, das Haus Misnia. „Bei der Einweihung 1955“, erzählt Tante Elfriede, „hat die Tochter vom Bäcker Edelmann ein Gedicht aufgesagt, Glocken des Friedens, das der Puppenspieler geschrieben hatte. Wäre das nicht schön, wenn man den Frieden herbeibimmeln könnte?“ (Kolumne vom Juli 2022, abgedruckt in der Sächsischen Zeitung)

bottom of page